Lenz I Thomas Imbach, CH 2006
So sehr auch die Hand versucht, die Sonne zu greifen, entwischt sie immer wieder aufs Neue. Unbeholfen erklimmt Lenz die schneebedeckten Berge, den roten Koffer im weißen Schnee hinter sich her ziehend. Ein auffallender Punkt in der Masse des kleinen Weiß, der aber so schnell dahinrauscht, dass die Kamera ihn kaum verfolgen mag. Im Kleinen verblichen. Geflüchtet in die Natur wird Lenz alsbald eins mit ihr, zelebriert die Gleichwerdung im Laben am Morgentau und taucht den stadtüberfluteten Kopf tief in das eiskalte und fruchtbar unurbane Eiswasser des Gebirges. Schneestaub rieselt auf ihn nieder. Nebelschwaden verhüllen das Licht, das ihn umgibt, von der trennenden Bergspitze des thronenden Matterhorns zerschnitten. Im Tanz um Ehrfurcht und Liebe mit sich und dem Drumherum, weit weg vom Leben und ganz nah an sich.
Der Filmemacher Lenz zieht in die Berge, um sich und seine Familie zu finden. Doch alles was davon übrig bleibt ist ein Fragment. Er mit sich im Film vom Selbst. Er als Teil eines großen Ganzen, das rege Schneetreiben des Massentourismus durchquerend, um die sinngebende Formgebung der Familie zu erreichen. Form als Grundbaustein der Inszenierung, der Formung von Einheiten und der erneuten Zusammenfassung von Formen im Ganzen. In der Inszenierung von Leben als Inszenierung von Kunst. Er als Film. Und er als Natur. Dieses Zuviel an Allem kann er nur fassen, indem er bricht. Der Berg teilt die Luft. Die Familie wird getrennt. Seine Psyche gespalten. Die zu Lenz gespiegelte Figur des Matterhorns, mitten im Film stehend, starr und bewegend, unbewegt teilnahmslos, zerschneidet seine Umwelt als scheinbar einziges Massiv feststehend im Rauschen des Schnees. Doch in der komplexen Fülle der Details, wechselnden Orten und Pfaden, verliert sich die Chance, die Sonne zu fassen, wohl immer mehr. Und das Rauschen setzt sich fort. Die Familie kommt, die Familie geht. Die Sonne geht auf, die Sonne geht unter. Und so bleiben nur noch Filme von sich selbst. „Nicht eine beobachtete Gesellschaft ablichten, sondern von sich selbst erzählen.“ Ganz nah ranlassen. Um dann wieder zu fliehen.
Eingebuddelt im Iglu, das einfach keine Wärme nach außen lässt, ergeht es Lenz wie dem kleinen Eskimo, der das Radio so sehr liebte, dass er sich selbst ein Cembalo kaufte, doch im Rausch der Töne die Welt um sich vergaß und schließlich von einem für ihn viel zu großen Eisbären gefressen wurde. Doch das Iglu lässt niemanden hinein. Die kalte Schicht wehrt jeden ab. Lenz bleibt im Kampf gegen ein Außen in sich selbst abgeschirmt, entfernt sich von der Gesellschaft, um für sie den Künstlertod zu sterben. Als Poet des Augenblicks schreibt er sein eigenes Fragment, bebt, um weiter leben zu können. Bis an seine Körperlichkeit rasend, dem Geist entgegeneilend, dem Eis trotzend und vor der Wärme flüchtend. Wenn wir dabei auf der Leinwand die großen und wilden Augen eines Lenz im tosenden Drumherum beobachten, so beobachtet er auch sich. Nicht, dass wir sehen was er sieht, sondern wir sehen, wie er sich sieht. Seine Kamera bleibt immer dabei, wandelt bald von einer Ununterscheidbarkeit zur Einheit. Und umso mehr wird die mitgeführte Kamera immer mehr zum Auge. Das Auge, was nur noch blickt und nichts mehr verändern kann. Im Sog der Abbildung aus der Aktion gerissen, kann er seine Familie nicht halten, entwischt die Sonne aus seinen Händen und alles wird wieder zu einem weißen Rauschen.
Formen können nicht gebildet werden, sondern entstehen nur noch. Verfallen und formen sich neu. Im Begreifen ein kleiner Teil des Großen zu sein, umhergewirbelt als Subjekt, behandelt als Objekt, in sich selbst verloren und unentdeckt. Eine warme Geschichte im fruchtbaren Eis der Menschen. Der Künstler als Fragment einer Gesellschaft, die niemanden allein lässt, als Grenzwert inmitten des Einen. Er selbst grenzt aus, bleibt aber als Grenze im Innen des Ausgegrenzten. Eine Gesellschaft, die alles einschließt, umwirbelt und absorbiert, bis es in sich selbst ausgeschlossen, kein Teil mehr von irgendetwas werden kann. Sperrig, zerbrochen und abgehetzt bleibt er am Ende wie am Anfang. Ein Fragment vom Leben.
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